Der Junge wird gemobbt, die Eltern sind ratlos: Ein beklemmender Theaterabend in Frauenfeld
Wenn Eltern zu Besserwissern und zu Feinden im Streit um das Wohl ihres Sohnes werden, ist man mittendrin im Theaterstück «Das kleine Pony». Im Eisenwerk Frauenfeld hatte die Inszenierung von Marcelo Diaz Premiere. Der Stoff beruht auf einer wahren Geschichte.
Diese Hilflosigkeit. Irene und Jakob giften und schreien einander an, jeder weiss besser, was für ihren Luis das Richtige wäre. Man möchte aufstehen und auf die Bühne stürmen und beiden sagen: «So nicht!» Der Schulleiter hat sie für ein Gespräch vorgeladen, es geht so nicht mehr weiter. Ihr elfjähriger Sohn Luis wird gehänselt, drangsaliert, geschnitten: wegen seines Rucksacks. Weil Pferdchen drauf sind, das sei mädchenhaft und nicht altersgerecht, sagt die Schule.
Luis sagt, der Rucksack beschütze ihn, doch dann wird er von seinen Mitschülern in der Toilette eingesperrt. Wer erwartet, dass sich die Eltern einig sind, was nun zu tun sei, irrt. Jakob will, dass Luis stark ist und sich wehrt, dass die Schule das Mobbing unterbinde (das Wort taucht im Stück nie auf!), Irene will die Ursache beseitigen und schmeisst den Rucksack weg, Luis‘ Talisman. Die Wortwechsel werden heftiger, gehässiger. Diese Eltern werden zu Besserwissern und Feinden im Streit um das Wohl ihres Sohnes.
Die Regie schält die Kernfragen präzis heraus
Das Stück «Das kleine Pony» des Spaniers Paco Bezerra beruht auf realen Ereignissen in den USA rund um einen Bub, dem die Zeichentrickserie «My Little Pony» viel bedeutete. Regisseur Marcelo Diaz hat es straff und beklemmend inszeniert – da ist kein Gramm zu viel. Diaz schält die Kernfragen heraus, lässt die beiden Spieler hart aufeinanderprallen in ihren Argumenten und Ausflüchten, die sich mehr und mehr zu Gehässigkeiten auswachsen. Julius Griesenberg (leger in Grau gekleidet, das Hemd nicht in die Hose gesteckt) spielt den Vater verbohrt, laut, raumgreifend; er will nicht, dass sein Sohn «normal» ist, er will ihn auf eine andere Schule schicken.
Susanne Odermatt (im grauen Kostüm) ist eine Mutter, die das Kindeswohl über das Ehewohl stellt, die ängstlich zurückweicht und dann wieder zuzuschlagen versucht. Beide gönnen einander nichts (Er sagt: «Ich will, dass du mir einmal recht gibst!»). Und doch gibt es auch seltene zarte Momente im Stück, in denen sie sich anzunähern und einen Konsens anzustreben versuchen. Was modellhaft und realistisch beginnt, kippt immer wieder ins Groteske und Absurde. Regisseur und Spieler lassen mehr offen, als das Stück selbst vorgibt: Was ist normal? Welches Argument wiegt schwerer? Welche Meinung sticht die andere aus?
Man achtet gebannt auf die Körpersprache
Auch Andreas Wagner ist dafür verantwortlich: mit dem kargen Bühnenbild ebenso wie mit den Videoeinspielungen und der Lichtführung. Einziges Requisit auf der Bühne ist ein durchsichtiger, mit Stofftieren gefüllter Quader, der als Spieltruhe, Sessel oder Couch in der angedeuteten Wohnung dient. Wie Löwen umkreisen die beiden Spieler ihn, fläzen sich siegesbewusst oder erschöpft von Gegenargumenten darauf. Der Zuschauer kann nicht anders, als gebannt auf die präzise Körpersprache zu achten. Und auf die Leinwand, auf der Andreas Wagner (Bühne, Video, Lichtkonzept) bisweilen Schwarz-weiss-Aufnahmen einblendet, die als poetische Ausweitungen und Erinnerungen an die frühere Harmonie dienen: Lächeln statt Grimassen, Vertrautheit statt Gegnerschaft, zärtliche Blicke statt geschriene Sätze.
Einmal drehen sich die beiden im Kreis: Die symbolische Bedeutung überlagert die wörtliche. Ein anderes Mal küssen sie sich – das muss viel früher gewesen sein. Dann der Showdown nach einer dichten Stunde: überraschend und unerwartet. Dieser eindringliche Satz Jakobs hallt auch nach dem Vorhang nach: «Aus einem Rosenstock werden immer Rosen blühen.» Und erst recht Irenes Satz: «Ich liebe mein Kind nicht.» Und eben dieses Video, als Irene und Jakob sich noch küssten.
Nächste Vorstellungen: www.daskleinepony.ch