Bericht – Premiere – TAGBLATT – 31.05.2021 – Dieter Langhart

Der Junge wird gemobbt, die Eltern sind ratlos: Ein beklemmender Theaterabend in Frauenfeld

Wenn Eltern zu Besserwissern und zu Feinden im Streit um das Wohl ihres Sohnes werden, ist man mittendrin im Theaterstück «Das kleine Pony». Im Eisenwerk Frauenfeld hatte die Inszenierung von Marcelo Diaz Premiere. Der Stoff beruht auf einer wahren Geschichte.

Szenen einer Ehe: Susanne Odermatt und Julius Griesenberg im Theaterstück «Das kleine Pony».
Szenen einer Ehe: Susanne Odermatt und Julius Griesenberg im Theaterstück «Das kleine Pony».
Bild: Sandra Balli

Diese Hilflosigkeit. Irene und Jakob giften und schreien einander an, jeder weiss besser, was für ihren Luis das Richtige wäre. Man möchte aufstehen und auf die Bühne stürmen und beiden sagen: «So nicht!» Der Schulleiter hat sie für ein Gespräch vorgeladen, es geht so nicht mehr weiter. Ihr elfjähriger Sohn Luis wird gehänselt, drangsaliert, geschnitten: wegen seines Rucksacks. Weil Pferdchen drauf sind, das sei mädchenhaft und nicht altersgerecht, sagt die Schule.

Luis sagt, der Rucksack beschütze ihn, doch dann wird er von seinen Mitschülern in der Toilette eingesperrt. Wer erwartet, dass sich die Eltern einig sind, was nun zu tun sei, irrt. Jakob will, dass Luis stark ist und sich wehrt, dass die Schule das Mobbing unterbinde (das Wort taucht im Stück nie auf!), Irene will die Ursache beseitigen und schmeisst den Rucksack weg, Luis‘ Talisman. Die Wortwechsel werden heftiger, gehässiger. Diese Eltern werden zu Besserwissern und Feinden im Streit um das Wohl ihres Sohnes.

Die Regie schält die Kernfragen präzis heraus

Das Stück «Das kleine Pony» des Spaniers Paco Bezerra beruht auf realen Ereignissen in den USA rund um einen Bub, dem die Zeichentrickserie «My Little Pony» viel bedeutete. Regisseur Marcelo Diaz hat es straff und beklemmend inszeniert – da ist kein Gramm zu viel. Diaz schält die Kernfragen heraus, lässt die beiden Spieler hart aufeinanderprallen in ihren Argumenten und Ausflüchten, die sich mehr und mehr zu Gehässigkeiten auswachsen. Julius Griesenberg (leger in Grau gekleidet, das Hemd nicht in die Hose gesteckt) spielt den Vater verbohrt, laut, raumgreifend; er will nicht, dass sein Sohn «normal» ist, er will ihn auf eine andere Schule schicken.

Bild: Sandra Balli

Susanne Odermatt (im grauen Kostüm) ist eine Mutter, die das Kindeswohl über das Ehewohl stellt, die ängstlich zurückweicht und dann wieder zuzuschlagen versucht. Beide gönnen einander nichts (Er sagt: «Ich will, dass du mir einmal recht gibst!»). Und doch gibt es auch seltene zarte Momente im Stück, in denen sie sich anzunähern und einen Konsens anzustreben versuchen. Was modellhaft und realistisch beginnt, kippt immer wieder ins Groteske und Absurde. Regisseur und Spieler lassen mehr offen, als das Stück selbst vorgibt: Was ist normal? Welches Argument wiegt schwerer? Welche Meinung sticht die andere aus?

Man achtet gebannt auf die Körpersprache

Auch Andreas Wagner ist dafür verantwortlich: mit dem kargen Bühnenbild ebenso wie mit den Videoeinspielungen und der Lichtführung. Einziges Requisit auf der Bühne ist ein durchsichtiger, mit Stofftieren gefüllter Quader, der als Spieltruhe, Sessel oder Couch in der angedeuteten Wohnung dient. Wie Löwen umkreisen die beiden Spieler ihn, fläzen sich siegesbewusst oder erschöpft von Gegenargumenten darauf. Der Zuschauer kann nicht anders, als gebannt auf die präzise Körpersprache zu achten. Und auf die Leinwand, auf der Andreas Wagner (Bühne, Video, Lichtkonzept) bisweilen Schwarz-weiss-Aufnahmen einblendet, die als poetische Ausweitungen und Erinnerungen an die frühere Harmonie dienen: Lächeln statt Grimassen, Vertrautheit statt Gegnerschaft, zärtliche Blicke statt geschriene Sätze.

Einmal drehen sich die beiden im Kreis: Die symbolische Bedeutung überlagert die wörtliche. Ein anderes Mal küssen sie sich – das muss viel früher gewesen sein. Dann der Showdown nach einer dichten Stunde: überraschend und unerwartet. Dieser eindringliche Satz Jakobs hallt auch nach dem Vorhang nach: «Aus einem Rosenstock werden immer Rosen blühen.» Und erst recht Irenes Satz: «Ich liebe mein Kind nicht.» Und eben dieses Video, als Irene und Jakob sich noch küssten.

Nächste Vorstellungen: www.daskleinepony.ch

Tagblatt, Dieter Langhart, 31.05.2021, 12.00 Uhr

Vorbericht – Premiere – TAGBLATT – 25.05.2021 – Dieter Langhart

Wenn es an Antworten fehlt: Die Frauenfelder Schauspielerin Susanne Odermatt steht bei «Das kleine Pony» im Eisenwerk auf der Bühne

Der zehnjährige Luis wird gemobbt – doch schaffen das die Eltern? Die Frauenfelderin Susanne Odermatt spielt die Mutter in «Das kleine Pony». Ein Probenbericht. Das Theaterstück feiert am Freitag, 28. Mai, Premiere im Eisenwerk in Frauenfeld.

Proben zu «Das kleine Pony». Es spielen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg.
Proben zu «Das kleine Pony». Es spielen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg.
Bild: Dieter Langhart

Corona ist eine Plage für daran Erkrankte – und für Theaterschaffende. «Das kleine Pony» hätte vor einem Jahr im Eisenwerk Premiere feiern sollen – es hat nicht sein dürfen. Also verschieben auf Februar – nichts da. Also verschieben auf diesen Mai – es muss gehen. Denn Premiere ist kommenden Freitag.

Es wird gehen, denn Regisseur Marcelo Diaz hört und schaut genau hin, lässt eine Szene drei-, viermal spielen, bis sie sitzt. Auf der Bühne stehen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg, umkreisen einander in dieser Szene, werfen einander Vorwürfe an den Kopf. Denn das Stück «Das kleine Pony» des Spaniers Paco Bezerra ist ein Stück über hilflose, verstrickte, verlorene Eltern – ihr zehnjähriger Luis tritt gar nicht auf.

«Wie geht es weiter mit der Welt, mit mir?»

Marcelo Diaz‘ Frage bleibt im Probenraum stehen. Diaz führt die beiden Schauspieler präzise, fast unerbittlich. Er hat daheim in Argentinien vom Stück des bekannten Spaniers Paco Bezerra erfahren, war begeistert, tat sich zusammen mit Odermatt und Griesenberg. Es muss gehen jetzt.

Proben zu «Das kleine Pony». Es spielen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg.
Proben zu «Das kleine Pony». Es spielen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg.
Bild: Dieter Langhart

Eltern suchen nach Schuldigen und sind überfordert

Im Stück gehe es um den Mangel an Antworten, sagt der Regisseur. Gehe es nicht nur um den verschupften Bub, sondern darum, wie eine Gesellschaft mit ihm umgehe. «Die Eltern suchen ständig nach Schuldigen und sind völlig überfordert», sagt Diaz. Susanne Odermatt hebt die Verlorenheit des Buben hervor und will mit ihrem Bühnenpartner Griesenberg eine Ebene tiefer gehen, auf die Ebene der Eltern mit ihren persönlichen Abgründen.

«Der Zuschauer kann und soll sich nicht für eine Figur entscheiden oder sich mit ihr identifizieren – das ist der Sog dieses Stückes.»

Das sagt die aus Zürich stammende Schauspielerin, die mit ihrer Familie in Frauenfeld lebt. Vor drei Jahren ist sie mit ihrem selbst geschriebenen Stück «Countdown oder das Ticken der Eieruhr» aufgefallen. Da ging es um das Austarieren von Arbeit, Mann und Kindern. Da sagte sie: «Wir müssen umdenken, damit Lebensabschnitte koordinierbar sind.» Da wirkt «Das kleine Pony» wie eine Fortsetzung.

Proben zu «Das kleine Pony». Es spielen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg.
Proben zu «Das kleine Pony». Es spielen Susanne Odermatt und Julius Griesenberg.
Bild: Dieter Langhart

Susanne Odermatt sagt, ihr sei das Stück regelrecht «eingefahren». Sie bekam beim Verlag die Rechte, es aufzuführen. Diaz kennt Griesenberg seit Jahren, doch für Odermatt war er ein neuer Bühnenpartner. Wenn das nicht passt zur Anlage dieser Szenen einer Ehe. Der Regisseur will, dass die menschlichen Komponenten im Team entschieden und umgesetzt werden. Und Susanne Odermatt sagt, sie müsse Irene verstehen, die Mutter, «und aus mir herausholen». Sie sagt:

«Mich interessiert das Authentische, das Schlichte dieser Figur.»

Und probt weiter mit ihrem Bühnenpartner Julius Griesenberg – und gar nicht immer sind sie sich einig, als Eltern des kleinen Luis.

Premiere: Freitag, 28. Mai, 20 Uhr, Eisenwerk; zweite Vorstellung Sonntag, 30. Mai, 18 Uhr. Infos und weitere Aufführungen im Thurgau siehe www.daskleinepony.ch.

Tagblatt, Dieter Langhart, 25.05.2021, 16.45 Uhr